Der Abgrund
Hier stand ich nun, vor mir tat sich der Abgrund auf. Viele hunderte Meter unter meinen Füssen peitschten die Wellen an die steilen Hänge der Felswand. Es rauschte und zischte. Die Spitzen der Wellen preschten einige Meter in die Höhe.
Cliffs of Moher
Ich stand auf einer weiten Wiese, auf den Cliffs of Moher, abseits des offiziellen Besucherweges. Die See war unruhig. Merkte es, wie ich mit meinem Innern ringte? Sah es die offenen Wunden in meinem Herzen? Ich war eine Gefangene meiner selbst. Ich haderte mit meinem Schicksal. Niemand merkte, wie sehr ich verletzt war, niemand sah meine Tränen. Um mich herum waren fröhliche Gesichter zu sehen und glückliche Stimmen drangten von weiter ferne an mich heran. Doch es hörte sich sehr stumpf an. Zusehr war ich mit meinen Gedanken beschäftigt. Der Wind vernahm meine unausgesprochenen Worte und trug sie mit sich fort. Ich fühlte mich leer, war antriebslos. Nichts vermochte mir Freude zu bereiten. Am liebsten wäre ich gesprungen, hätte alles hinter mich gelassen. Alles war so sinnlos geworden. Was hielt mich noch fest hier?
Neben mir sah ich die leere Hülle meines selbst. Es starrte mich mit leeren, fragenden Augen an. Eigentlich war das Leben schön. Ich hatte einen Sohn und einen liebevollen, verständnisvollen Ehemann. Und doch war ich unglücklich. Mir fehlte es an nichts und doch fühlte sich alles so fahl und stumpf an. Als würde es mir nicht zustehen. Eine Lügenschloss, dass allmählich zu einstürzen drohte.
„Hilfe, warum hilft mir denn niemand?“, wollte ich in die Weite schreien. Die Stimme versagte und ich blieb stumm. Nur noch einen Schritt weiter und ich wäre erlöst. Einen Schritt, der mich von meinen Schmerzen befreien könnte. Irgendwas hielt mich fest. Ich schloss meine Augen. Und dann sah ich, wer mich festhielt.
Mein Schutzengel
Es war mein Schutzengel. Langes, welliges blondes Haar wehte im Wind und mein Schutzengel versuchte vergebens, die wildgewordenen Stränchen zu zähmen. Ich schmunzelte. Denn ich kannte dieses Spiel mit den Haaren nur zu gut. Sie band ihre Haare mit einem Gummiband zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dann zupfte sie ihr langes Gewand zurecht und guckte mich mit ihren grossen freundlichen blauen Augen an.
„Was ist denn los, Tania? So kenne ich dich gar nicht,“ erkundigte sich Myriel. „Wenn ich das wüsste, stünde ich nicht hier vor den Klippen. Dann wäre ich einfach hier und würde diese wunderschöne Aussicht geniessen. Doch alles scheint für mich keinen Sinn mehr zu machen. Ich fühle mich innerlich total leer und ausgelaugt. Kannst du mir helfen?“
„Suche dir Hilfe, gehe hinaus. Du bist mit deinen Problemen und Ängsten nicht alleine. Es gibt viele, die leiden, nur wenigen wird geholfen. Lass dich nicht von diesem Dämon einvernehmen. Kämpfe dagegen an. Öffne deine Augen, verschliesse sie nicht. Nur so wirst du ihn besiegen können“, munterte mich Myriel auf.
Der Dämon
Welcher Dämon hatte denn von mir besitz ergriffen? Wie sollte ich ihn erkennen? Gab es überhaupt eine Möglichkeit dazu? Mehr konnte ich nicht mehr von Myriel erfahren. Denn als ich meine Augen wieder öffnete, war sie verschwunden. Ich sah wieder auf das Meer. Doch diesmal war es ruhig, keine hohe Wellen, kein tosender Wind war zu hören. Nur das pochen meines Herzens war zu hören. Ich spürte, wie mir plötzlich warm wurde. Myriel hatte recht, wenn ich meine Augen öffnete, so sah ich ganz klar.
Ich sah ein Monster mit Hufen und einem langen Schwanz. Die Hörner auf der Stirn waren zu schlangenförmigen Form mit spitzem Ende verwachsen. Er funkelte mich mit seinen feuerroten Augen an. Sein Atem stank nach Schwefel.
„Na endlich siehst du mich, du nichtsnutzige kleine Göre“, fauchte er mich an. „Und wer bist du?“ „Ich bin dein innerer Dämon, mein Name ist Depression“, stellte sich das Ungeheuer vor. Endlich, diese Gefühlswelt hatte einen Namen. Schön und gut, doch wie wurde ich dieses Monster los? Ich machte meine Augen zu. Stellte mir vor, Depression würde neben mir beim Abgrund stehen.
„Komm, lass uns springen“, forderte der Dämon mich auf. „Nein, ich springe nicht“, schrie ich ihn an. „Ich habe Familie und Freunde.“ Da lachte Depression höhnisch und fragte: „Und wo sind sie denn?“ Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter und ich drehte mich um. Meine Mutter schaute den Taugenichts strafend an und verkündete: „Wir sind alle da und unterstützen Tania wo auch immer sie Hilfe benötigt.“
Alle versammelten sich um mich herum und mit vereinten Kräften, stiessen wir den Dämon in die Tiefe. Das Meer verschluckte die Depression und zerrte es immer tiefer in die dunkelsten Ecken des Meeresgrundes hinunter. Die Meeresbewohner sorgten dafür, das der Dämon nie wieder ans Tageslicht erschien.
PS: Wenn ihr unter Depressionen leidet, holt euch bitte Hilfe. Ich weiss wovon ich hier erzähle. Die Geschichte ist erfunden, aber ich litt selbst unter Depressionen und wenn ich nicht Hilfe geholt hätte, ich wüsste nicht, ob ich noch hier verweilen würde.